15

 

„Wie fühlst du dich jetzt, Nell?“

Ich schob den kalten Waschlappen beiseite und blickte zu Belinda auf, die sich über mich beugte. „Mir ist kotzübel wegen meiner Unvorsichtigkeit. Von meinem Schuldgefühl gar nicht zu reden... Wie konnte ich nur so dumm sein, nicht zu erkennen, dass Saer nicht Adrian war! Und das bedeutet, dass du von nun an für den Rest deines unendlichen Lebens leiden musst. Ich bin wütend, weil dein Sohn in diesen ganzen Schlamassel hineingezogen wurde. Und zu guter Letzt möchte ich Adrians und Saers Vater am liebsten erwürgen, aber der ist tot, also ist das Einzige, was ich tun kann, schlecht von ihm zu denken.“

Belinda schaute ein wenig perplex drein, angesichts meiner überaus ausführlichen Antwort. „Ich meinte, wie geht es deinem Kopf? Sind die Kopfschmerzen weg?“

Ich seufzte und setzte mich auf, faltete den Waschlappen sorgfältig und reichte ihn ihr, bevor ich mir ein Lächeln abrang. Zwar ein klägliches Lächeln, aber immerhin. Zu mehr war ich nicht imstande.

„Mir geht's schon viel besser jetzt. Vielen Dank für das Aspirin.“

„Gern geschehen. Möchtest du deinen Kaffee mit oder ohne Milch?“

„Ohne, danke schön.“

Sie nickte und ging in die Küche zurück. Dem Mann am Fenster warf sie nicht mal einen kurzen Blick zu. Dort stand Adrian mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und spähte durch die Lamellen der Jalousien nach draußen. Ich hingegen war weniger zurückhaltend und starrte Adrian so lange an, bis er die Berührung meines Blicks bemerkte und sich zu mir umdrehte.

„Es ist hoffnungslos, Hasi. Er hat die Vereinigung vollzogen, er hat den Ring und bald auch eine Armee, mit der er mich und Asmodeus besiegen wird.“

„Das Wort hoffnungslos möchte ich nicht gehört haben. Und du weißt doch gar nicht, ob die Armee, die Saer aufstellt, überhaupt für dich bestimmt ist.“

„Ich verfüge leider nicht über den Luxus deines Zweifels. Er wird hinter mir her sein, so sicher, wie er versuchen wird, Asmodeus zu stürzen. Saer hat absolut recht: Mit dem Ring ist er nahezu unschlagbar. Ich habe seinem Angriff nichts entgegenzusetzen, und nach seiner Vereinigung mit Belinda verfügt er über die Macht, die er benötigt, um Asmodeus zu besiegen und mich zu zerstören.“

Ich blickte stirnrunzelnd zur Küchentür. Belinda summte glücklich vor sich hin, während sie das Frühstück vorbereitete, und aus dem Radio drangen fröhliche Klänge zu uns.

„Jetzt begreife ich wirklich gar nichts mehr. Du hast doch gesagt, dass Saer den Ring benutzen wird, um sie dazu zu zwingen, ihre Seele für ihn zu opfern. Ich verstehe, wieso er sich mit ihr vereint hat, nachdem er den Ring in seine schmierigen Pfoten bekommen hatte, aber nicht, wieso ihm das mehr Macht verleiht. Nicht, wo du doch selbst gesagt hast, dass die Bindung an sie ihn zurückhalten würde.“

Adrian blickte wieder aus dem Fenster.

„Die Seele einer Auserwählten ist überaus wertvoll. Sie ist von Natur aus rein, eines der reinsten Beispiele selbstloser Liebe, die je existierten. Jenen, die nach der Macht der Dunkelheit streben und sie benutzen, bietet sie ein nahezu unbegrenztes Kapital.“

„Also gewinnt er an Macht, allein schon dadurch, dass er sich mit ihr vereint hat, nur weil ihre Seele so rein ist?“

„So kann man es ausdrücken.“

Ich rieb mir die Stirn. Ich war am Ende meiner Kräfte und spürte dazu noch Adrians Hunger und Erschöpfung. Es schien so, als ob wir schon seit Tagen ohne Schlaf auf den Beinen wären. „Und wie passt Damian in das Ganze? Saer wird ihn doch sicher nicht auch noch opfern?“

„Nein, er wird ihn nicht opfern. Wenigstens... nein. Nicht einmal Saer würde daran denken, sich auf diese Weise Macht zu verschaffen.“

Adrian klang so müde, wie ich mich fühlte. Seine Augen waren von Schmerz und Niedergeschlagenheit trübe. Bei seinem Anblick wollte ich gleichzeitig vor Verzweiflung heulen und einen Angriffsplan aufstellen. Ich entschied, dass Letzteres die einzige Möglichkeit war, wie wir aus dieser furchtbaren Lage vielleicht noch entkommen konnten.

„Das ist eine Erleichterung, aber selbst wenn Damian in Sicherheit ist, ist und bleibt Saer ein Ungeheuer, wenn er Belinda in der Weise missbraucht, wie du vermutest. Wir müssen ihn aufhalten. Wir können nicht zulassen, dass er sie opfert, nicht einmal für Damian.“

Adrian fuhr sich mit der Hand durchs Haar; unter seinen Augen lagen dunkle Schatten.

„Es ist zu spät, Hasi. Saer ist nun unbesiegbar.“

„Vielleicht kann er nicht getötet werden, aber das war auch nie meine Absicht.“ Ich stand auf und ging zu ihm, schlang meine Arme um seine Taille und atmete für ein paar Augenblicke seinen wunderbaren Duft ein, bevor ich ihm einen Kuss auf seine hinreißenden Lippen drückte. „Aber ich habe immer noch Giglis Zauberbuch und ich würde mit allergrößtem Vergnügen ein oder zwei Flüche ausprobieren, um uns einen kleinen Vorteil zu verschaffen. Ich finde, ein Schwanz würde Saer ausgezeichnet stehen, was meinst du?“

Adrian weigerte sich, sich aus seiner trübsinnigen Stimmung reißen zu lassen. „Das ist kein Thema für dumme Witze, Nell.“

„Ich meine es todernst, mein Mausespeck.“ Er zuckte zusammen. Ich lächelte. „Entschuldige. Ich suche immer noch nach dem perfekten Kosenamen.“

„Such weiter.“

Ich küsste ihn aufs Kinn. „Ich geb nicht auf, wenn du nicht aufgibst.“

Seine Stirn legte sich in die mir so wohlbekannten Falten. „Warum machst du dir weiter etwas vor? Es gibt keine Möglichkeit, wie ich Saer aufhalten könnte. Ich habe dir schon mindestens dreimal gesagt, dass es mir - oder auch dir - nicht möglich ist, ihm Paroli zu bieten, solange er im Besitz von Asmodeus' Ring ist.“

„Oh, Saer trägt den Ring nicht bei sich“, sagte Belinda, die soeben eine Kaffeekanne, zwei Becher und einen Teller mit Toast auf einen kleinen runden Tisch stellte. Sie rückte das Geschirr zurecht und war sich offenbar nicht im Mindesten bewusst, dass zwischen Adrian und mir auf einmal fassungsloses Schweigen herrschte. Endlich fassten wir uns wieder.

„Hat er nicht?“, fragte ich und fiel damit Adrian ins Wort, der zur selben Zeit zu wissen verlangte,

wo der Ring zu finden sei.

Belinda sah vom Tisch auf und blinzelte überrascht. „Nein, er hat ihn nicht mitgenommen. Er sagte, es wäre zu riskant, den Ring dazu zu benutzen, Gefolgsleute herbeizurufen. Deshalb hat er ihn bei mir gelassen.“

Ich starrte sie fünf Sekunden lang an, mir war schwindelig und ich wäre fast vor lauter Glück geplatzt, als Adrian Belinda an beiden Armen packte und sie ungeduldig schüttelte.

„Wo ist er? Wo genau ist er?“

„Ich habe ihn“, sagte sie. Ihre Zähne schlugen aufeinander, als sie sich an den Hals griff und eine goldene Kette hervorzog, die unter ihrem Bademantel verborgen gewesen war. Sie zog sie heraus und ein wohlbekannter Ring aus Hörn und Gold kam zum Vorschein.

„Mein Ring!“, schrie ich. Tränen der Erleichterung brannten mir in den Augen.

Dein Ring?“, fragte sie, den Ring verführerisch tanzend an der Halskette haltend.

Adrians Augen glühten heiß, als er ihn betrachtete, seine Finger zuckten, als ob er ihn auf der Stelle an sich nehmen wollte.

„Saer sagte, es sei seiner.“

„Na ja, ich bin diejenige, die ihn sich ursprünglich ausgeliehen hat“, sagte ich. „Ich habe ihn Saer gegeben, weil ich dachte, er wäre Adrian. Wenn es dir nichts ausmacht, hätte ich ihn gerne zurück.“

Ihre Finger schlossen sich um den Ring, als ich danach griff. Ihr Gesicht nahm einen störrischen, harten Ausdruck an. „So wie die Dinge liegen, macht es mir allerdings etwas aus. Saer sagte, dieser Ring wird Damian befreien. Ich kann ihn dir nicht geben, ehe mein Sohn in Sicherheit ist.“

„Nell ist eine Bannwirkerin“, sagte Adrian; seine Stimme klang rau und harsch, als ob er sich nur mit Mühe zusammenreißen könnte. „Sie hat den Ring gestohlen, um Damian zu retten.“

„Ich hab ihn nicht gestohlen!“ Ich warf Adrian einen wütenden Blick zu und gab ihm mit Gesten zu verstehen, dass ich ihn mir vorknüpfen würde, sobald wir allein waren. „Ich habe ihn mir einfach nur geborgt. Ich habe selbstverständlich vor, ihn Christian zurückzugeben, sobald ich ihn nicht mehr brauche.“

„Nell hat geschworen, Damian zu helfen“, sagte Adrian. Ich nickte. „Sie ist unsere einzige Hoffnung, ihn zu befreien, ohne eine Macht zu entfesseln, die gewaltiger ist, als irgendjemand von uns es sich vorstellen kann. Du kennst Saer. Du weißt, wozu er fähig ist. Du musst uns vertrauen.“

„Bitte, Belinda.“ Ich berührte ihren Arm. „Adrian hat recht. Ich habe geschworen, alles zu tun, was in meiner Macht steht, deinen Sohn aus der Gefangenschaft zu befreien, aber um das zu tun, brauche ich den Ring.“

„Saer ist ein bisschen... verwirrt, das will ich gerne zugeben. Er hat sich in den letzten Jahren verändert, er ist mir fremd geworden, aber trotzdem - ich weiß, dass er Damian niemals schaden würde“, protestierte sie.

„Es ist nicht um Damians willen, dass er den Ring begehrt“, sagte Adrian sanft.

Ich zog die Stirn kraus und warf ihm einen verwirrten Blick zu, bis mir einfiel, dass Saer offensichtlich bereit war, Belinda zu opfern, um mehr Macht an sich zu reißen. Erst jetzt begann ich zu begreifen, was für ein Ungeheuer er tatsächlich war - so ein Monster würde selbst seinen eigenen Sohn ohne zu zögern in den Händen eines Dämonenfürsten zurücklassen.

Belinda blickte zwischen Adrian und mir hin und her; hinter den Tränen, die ihr in die Augen gestiegen waren, war deutlich ihre Unentschlossenheit zu sehen. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Saer sagte, er würde Damian befreien, und jetzt sagt ihr, Nell wäre unsere einzige Hoffnung. Aber ich kenne sie doch überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob sie das tun wird, was sie versprochen hat, ob sie Damian wirklich retten wird. Er ist doch nur ein Kind!“

„Sie wird ihn retten. Sie ist meine Auserwählte -sie hat gar keine Wahl“, erklärte Adrian mit sanfter, überzeugender Stimme.

Belinda sah wieder zu mir. Ich versuchte wie jemand auszusehen, der sieben Tage die Woche gegen Dämonenfürsten antritt, ohne mit der Wimper zu zucken. Schließlich nickte sie, zog sich die Kette über den Kopf und ließ sie und den Ring in meine wartende Hand fallen. „Wenn du wirklich Adrians Auserwählte bist, werde ich dir vertrauen.“

„Du wirst es nicht bereuen“, versprach ich und umschloss den Ring fest mit meiner Hand. Er war noch warm von ihrer Haut, aber als ich ihn jetzt umklammerte, schien er für einen Moment regelrecht zu glühen. Ich warf Adrian ein triumphierendes Lächeln zu und legte mir die Kette um, bevor ich mir meinen Mantel überwarf. „Auf geht's, Mausespeck, wir müssen noch einen Dämonenfürsten vernichten.“

Adrian packte mich am Mantel, als ich an ihm vorbeistürmte. Er nickte in Richtung Fenster.

„Ich verschwende ja nur ungern Zeit, aber ich kann da nicht rausgehen.“

„Verdammt!“, fluchte ich und warf einen bitterbösen Blick hinaus in das sich langsam auflösende Grau. Hinter rasch vorbeiziehenden Wolken zeigte sich blauer Himmel.

„Warum muss die Sonne denn ausgerechnet dann scheinen, wenn man sich mal einen hübschen, trüben Tag wünscht?“

„Ich würde auch dann nicht aufbrechen wollen, wenn es schon Mitternacht wäre“, sagte Adrian und nahm meine Hände. „Du bist viel zu müde. Es wäre der reinste Wahnsinn zu versuchen, einen Bann zu wirken, wenn du so erschöpft bist, dass du dich kaum noch auf den Beinen halten kannst.

Wir werden uns ausruhen, bis die Sonne untergeht.“

„Aber -“, versuchte ich zu protestieren.

„Damian -“, sagte Belinda zur selben Zeit.

Adrian hob seine freie Hand, um uns beide zum Schweigen zu bringen. „Asmodeus wird Damian nichts antun, ehe er nicht den Ring in seinen Besitz gebracht hat. Damian wird bis heute Abend sicher sein, wenn Nell ihn befreit. Aber um das zu tun, braucht sie jetzt Ruhe. Wir haben gestern nur wenig geschlafen und letzte Nacht überhaupt nicht. Ich hasse es, dich um einen Gefallen zu bitten -“

„Ihr könnt gerne bleiben“, unterbrach Belinda ihn rasch. Ich spürte deutlich, dass es ihr genauso wenig gefiel zu warten wie mir, aber sie erkannte, dass das, was Adrian sagte, vernünftig war.

Genau wie ich, obwohl es mir ganz und gar nicht passte zuzugeben, dass er recht hatte. Ich war tatsächlich am Ende meiner Kräfte. Auch er wurde aufgrund von Hunger und Schlafmangel immer schwächer, das spürte ich, auch wenn er, wie mir aufgefallen war, es nicht eingestanden hatte.

Er schüttelte den Kopf. „Wenn Saer unerwartet zurückkommen sollte, könnte er Nell möglicherweise etwas antun. Hast du immer noch diese Liege in deinem Büro hinter dem Pub?“

„Ja“, antwortete sie, wobei sie ihn auf eine vertrauliche Weise ansah, die mir nicht gefiel -Gastgeberin hin oder her. „Aber da passt nur einer drauf und du bist ziemlich groß...“

Ich trat näher an ihn heran und warf ihr einen entschlossenen Blick zu. „Eine Liege wäre toll, vielen Dank. Adrian kann auf der Liege schlafen und ich schlafe auf ihm.“

Sie hatte den Anstand wegzuschauen; sie errötete leicht, als sie in das Nebenzimmer eilte. „Ich hole den Schlüssel für den Pub.“

„Nell“, sagte Adrian. Ich sah voller Erstaunen zu, wie das dunkle Saphirblau seiner Augen zu einem hellen Stahlblau wurde. „Ich weiß, was du denkst.“

Ich hob meine Augenbrauen in gespieltem Entsetzen. „Du weißt, dass ich vorhabe, auf der Stelle über dich herzufallen, sobald ich dich für mich allein habe?“

„Ich weiß, dass du planst, dich davonzuschleichen, sobald ich eingeschlafen bin. Ich weiß, dass du planst, Damian ohne mich zu befreien.“

Meine Augenbrauen sanken in ihre vorherige Position zurück, während ich die unschuldigste Miene aufsetzte, derer ich fähig war. „So etwas würde ich nicht einmal zu denken wagen.“

„Nein?“

Ich schaffte es nicht, ihm in seine wissenden Augen zu schauen. Stattdessen blickte ich zu Boden und zupfte eine unsichtbare Fluse von meinem Ärmel.

„Nein. Nicht ernsthaft. Möglicherweise ist mir diese Idee mal kurz durch den Kopf gegangen, aber ich habe nicht ernsthaft darüber nachgedacht. Nicht lange.“

„Gut. Das ist nämlich eine Idee, die weitaus mehr als bloß dumm ist. Es wäre Selbstmord zu versuchen, es ohne meine Hilfe mit Asmodeus aufzunehmen, und das“, seine Finger strichen zärtlich über mein Kinn, während sie meinen Kopf anhoben, „könnte ich niemals zulassen. Dafür bist du mir viel zu wichtig.“

„Du musst der Tatsache ins Auge sehen“, sagte ich und rieb meine Nasenspitze an seiner, „du bist ganz schrecklich in mich verliebt. Ohne mich wärst du verloren. Ich bin deine Erde und deine Sonne und auch alles, was dazwischen liegt.“

Ich hielt den Atem an, als ich auf seine Antwort auf meine halb im Scherz dahingesagte Behauptung wartete. Ich wusste, dass er mich begehrte, wusste, dass er mein Blut brauchte, wusste, dass wir auf eine Art und Weise aneinander gebunden waren, die ich nicht mal ansatzweise verstand, aber ich hatte keine Ahnung, ob seine Gefühle für mich mehr als rein körperlich waren.

Gerade wollte er mir antworten, als Belinda ins Zimmer trat.

„Ich habe den Schlüssel gefunden. Am besten betretet ihr den Pub durch die Hintertür, damit euch keiner sieht.

Adrian wandte sich ab. Ich fluchte stumm vor mich hin und verwünschte ihr schlechtes Timing. Was hatte er mir wohl gerade sagen wollen? Seine Augen waren ausdruckslos und gaben mir keinerlei Hinweis.

Ich würde es herausfinden müssen, wenn wir erst mal allein waren. Adrian gab Belinda die Anweisung, uns ein paar Stunden vor Sonnenuntergang zu wecken, damit wir genug Zeit hatten, uns für das Ritual vorzubereiten, das ich an diesem Abend durchführen würde - oder zumindest versuchen durchzuführen. Ich nahm das Proviantpaket dankend an, das sie für mich vorbereitet hatte, und wartete an der Tür. Ich bemühte mich, meine Ungeduld zu verbergen, während ich darum betete, dass Adrian sich endlich losreißen möge, damit wir uns in das Büro zurückziehen konnten. So müde ich auch war, ich hatte noch einiges mit ihm vor, und meine Pläne beinhalteten nicht nur ein bisschen Liebe - zu rein therapeutischen Zwecken, wohlgemerkt -, sondern auch den Verzehr eines Frühstücks.

„Weißt du, ich habe hierbei ein richtig gutes Gefühl“, sagte ich über meine Schulter hinweg zu Adrian, als ich die Stufen von Belindas Wohnung zur Haustür hinunterstieg. In seinem Mantel und Hut war er nur ein Schatten auf der dunklen Treppe; außerdem verhüllte noch ein schwarzes Tuch, das Belinda aus ihrem Schrank hervorgekramt hatte, seine untere Gesichtshälfte. „Wir haben einiges einstecken müssen, aber wir liegen immer noch in Führung. Von jetzt an wird das alles das reinste Kinderspiel sein, warte nur ab!“

Ich streckte die Hand nach dem Türgriff aus und machte einen Riesensatz zurück, als die Tür auf einmal aufschlug.

Im Türrahmen ragte ein Mann in einem schwarzen Mantel und Hut drohend auf. Hinter ihm kam eine Frau mit Sonnenbrille auf die Tür zugehumpelt.

Christian starrte mich überrascht an - vermutlich ebenso überrascht über meinen Anblick wie ich über seinen.

Ich aber hatte mich schneller gefasst. Ich stürzte vor, schob ihn rücklings durch die Tür, knallte sie zu und legte den Riegel vor, während ich zugleich in aller Windeseile einen Fesselungsbann wählte.

„Sie haben uns gefunden!“, zischte ich Adrian über meine Schulter hinweg zu. Er brauchte keine weitere Erklärung. Er schnappte sich meine Hand und zerrte mich die Treppe zu Belindas Wohnung hinauf.

Ich wehrte mich, indem ich mich am Endpfosten des Geländers festhielt. Dann wurde ich Zeugin, wie sich zu meinem größten Erstaunen der Bann, den ich gewählt hatte, aufzulösen begann, sah, wie sich die grünen Linien, direkt vor meinen Augen, Stück für Stück entwirrten!

„Was zum Teufel -“ Ich riss mich von Adrian los und rannte zur Tür zurück, berührte mit meinem Finger das noch intakte Ende des Banns und zeichnete so schnell wie möglich noch einmal das Muster des Fesselungsbanns.

Der Bann glühte eine Sekunde lang grün auf, begann zu verblassen und glühte erneut auf, bevor er sich wieder aufzulösen begann.

„Nell, lass es! Es gibt einen anderen Weg aus Belindas Wohnung!“

Ich berührte den Bann mit meiner Fingerspitze und biss die Zahne zusammen, als er sich meiner Berührung widersetzte.

„Geh du“, sagte ich, vollkommen auf den widerspenstigen Bann konzentriert. „Ich bleibe hier und verteidige die Tür.“

„Ich werde dich nicht verlassen“, knurrte er und sprang die Treppe hinunter, um mich zu packen.

„Das muss diese Allie sein.“ Ich kämpfte mit dem Bann, um zu verhindern, dass er sich noch weiter auflöste. „Sie steht auf der anderen Seite der Tür und versucht ihn rückgängig zu machen.“

„Nell, lass es! Wir müssen auf der Stelle fliehen.“

Ich nahm das aufgelöste Ende des Bannes, bog und drehte es, fast so, als ob ich eine Schleife binden wollte, und befestigte es in einer Art Knoten. Dann beäugte ich mein Werk noch ein paar Sekunden, um sicherzugehen, dass Allie nicht in der Lage war, es so rasch zu entwirren - der Bann zitterte und dehnte sich, aber er hielt.

„Das denke ich nicht“, sagte ich und drehte mich zu Adrian um.

„Nein, hör mir zu. Ich denke, wir sollten uns trennen. Sie wollen schließlich nicht mich, sie wollen dich. Du gehst hoch zu Belinda und schleichst dich hinten raus. Ich sorge dafür, dass unsere kleine Bannstreberin so lange beschäftigt ist, bis du dich in Sicherheit gebracht hast.“

„Ich werde dich nicht verlassen“, sagte er und zog mich an sich. Einen Moment lang wurde ich schwach und ließ mich gegen ihn sinken; unsere Lippen berührten sich.

Ich weiß diesen machomäßigen Superman-Beschützerinstinkt wirklich zu schätzen, Adrian, aber diesmal musst du ihn überwinden. Du weißt genauso gut wie ich, dass Christian und Allie mir nichts zuleide tun werden. Ich bin nicht in Gefahr, also hör auf, dich so anzustellen, wenn wir uns trennen müssen. Ich werde dich nicht verlassen. Ich werde es nicht zulassen, dass du ihnen in die Hände fällst.

Meine Lippen streiften über sein Kinn und seine Wangen. Es war nicht Christian, der mich umbringen wollte, es war Sebastian. Ich schwöre dir, ich bin vollkommen sicher. Jetzt, wo ich mich endlich daran gewöhnt habe, schon vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge zu glauben, mein weißes Kaninchen, habe ich nicht vor, dich zu verlieren.

Hasi -

Geh! Ich treffe dich später, im Britischen Museum.

Wohin wirst du gehen? Sein Widerstand wurde schwächer. Sein Bedürfnis, mich zu beschützen, lag im Widerstreit mit der Gewissheit, dass das, was ich sagte, der Wahrheit entsprach, aber die Entscheidung, ob sein Herz oder sein Verstand gewinnen würde, stand auf Messers Schneide.

Zum einzigen Ort, zu dem ein Vampir keinen Zutritt hat - eine Kirche.

Sein Seufzer streifte mein Bewusstsein, als er sich von mir löste. „Dunkle sind durchaus in der Lage, Kirchen zu betreten, Hasi. Wir sind verdammt, keine Dämonen.“

„Oh.“ Ich warf einen erneuten Blick auf den Bann. Jetzt begann er sich am anderen Ende zu lockern; offensichtlich arbeitete Allie nach wie vor mit allen Kräften an seiner Auflösung. Mir blieben nur noch Sekunden, nicht mehr. „Ich gehe zur amerikanischen Botschaft, okay? Das muss der sicherste Ort in ganz London sein. Gleich nach Sonnenaufgang treffe ich dich dann im Britischen Museum.“

„Nell, wenn wir uns trennen, werden wir nicht mehr unsere Gedanken verschmelzen können.“

Das gab mir ein paar Sekunden lang wirklich zu denken. Ich hatte mich eigentlich nie als besonders anhänglichen Menschen gesehen, aber seit ich Adrian kennengelernt hatte, bereitete mir jede Trennung Unbehagen, fast so, als ob mir ein Teil meines Bewusstseins fehlte. Wenn es sich schon so anfühlte, wenn ich mich nur in einem anderen Raum als er aufhielt, wie würde es dann sein, wenn uns eine ganze Stadt trennte?

Die Tür hinter mir wurde von einem Schlag erschüttert. Ich hatte keine Wahl.

„Geh!“ Ich schubste ihn die ersten paar Stufen hinauf und eilte dann zur Tür zurück, um mich weiter mit dem Bann abzuplagen. Der Knoten, den ich geknüpft hatte, löste sich. Widerwillig begann Adrian die Treppe hochzusteigen.

„Adrian?“

Er blieb oben stehen - fast verschmolz er mit den Schatten der Dunkelheit, die ihn umgab.

„Ich liebe dich.“

Ich konnte eine kurze Bewegung seines Kopfes ausmachen, doch ob sie zustimmend oder ablehnend war, würde ich wohl nie erfahren. In diesem Moment glitt mir der Bann aus den Händen und löste sich fast vollständig auf. Ich schnappte mir gerade noch das Ende und hielt es so fest ich konnte, während Adrian gegen Belindas Tür hämmerte. Sie öffnete sich und er verschwand im selben Augenblick, als die Tür vor mir unter der Gewalt eines schweren Schlages erzitterte. Der Bann krümmte und wand sich in meiner Hand. Lärmend schlug ein großer, wütender Vampir auf die andere Seite ein. Ich klammerte mich an den Bann, so lange es mir möglich war, und versuchte sogar, den Knoten neu zu knüpfen, aber Allie verfügte über weitaus mehr Erfahrung als ich. Der ganze Bann löste sich unter meinen Händen auf, während Holz splitterte. Ich brachte mich mit einem Sprung nach hinten in Sicherheit, als Christian sich erneut gegen die Tür warf. Ohne den Fesselungsbann, der die Tür geschlossen hielt, gab das Holz auf der Stelle nach. Ich lehnte mich mit verschränkten Armen gegen die Wand und setzte eine, wie ich hoffte, unbekümmerte Miene auf. „Na so was, Sie auch hier?“

Christian stieß zwischen gefletschten Zähnen ein paar Worte in einer Sprache hervor, die mir vage vertraut vorkam, und stürzte an mir vorbei.

„Sind Sie etwa zu lange in der Sonne gewesen?“, rief ich ihm hinterher und zeigte mit einem Finger auf die Seite seines Gesichts, wo sich die Haut von Hals und Wange gerötet hatte. „Sie sollten besser aufpassen. Hautkrebs, Sie wissen schon.“

Er ignorierte mich. Ich blickte an Allie vorbei, die jetzt hereinmarschiert kam. „Was denn - kein Sebastian?“

Sie blieb am Fuß der Treppe stehen und zog ihre dunkle Sonnenbrille ab, um mir einen finsteren Blick zukommen zu lassen. „Er verträgt überhaupt keine Sonne. Und wenn Sie meinen Mann auch nur eine Sekunde länger dem Sonnenlicht ausgesetzt hätten, hätte ich Sie fertiggemacht!“

Ich hob das Kinn, fest entschlossen, mich von ihr nicht einschüchtern zu lassen. „Sie können es ja mal versuchen.“

Sie schnaubte verächtlich, bevor sie hinter Christian her die Stufen hinaufhumpelte. „Führen Sie mich nicht in Versuchung.“

Ich wartete ab, bis Belinda auf das donnernde Klopfen von Christians Fäusten reagiert hatte, dann drehte ich mich um und schritt langsam durch die inzwischen komplett zerstörte Haustür in das heitere Licht eines selten sonnigen Tages hinaus.

Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon- neu-ok
titlepage.xhtml
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_000.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_001.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_002.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_003.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_004.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_005.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_006.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_007.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_008.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_009.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_010.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_011.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_012.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_013.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_014.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_015.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_016.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_017.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_018.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_019.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_020.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_021.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_022.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_023.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_024.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_025.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_026.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_027.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_028.htm
Dark one 03 - Kuesst du noch oder beisst du schon-neu-ok-01.12.11_split_029.htm